Von Schachten, Racheln und Grenzsteigen
Tour solo, T2, 24,35 km, 1061 hm, 9 3/4 h, Ausgangspunkt Trinkwasserspeicher Frauenau (REG)
Ich habe ja vor fünf Wochen die Lusenüberschreitung vollmundig als meine Königstour für 2015 bezeichnet. Irgendwie stimmt das schon noch, aber weit entfernt war die Rachelüberschreitung genusstechnisch auch nicht. In einer Hinsicht war sie auf jeden Fall einfacher, nämlich vom Logistischen. Ich ging am gleichen Ort los, an den ich am Abend zurückkam, und konnte deshalb mit dem Auto direkt hinfahren und hatte keinen Stress mit Bussen. Dafür gibt es wohl keinen anderen Berg im Bayerischen Wald, der derart als Synonym für den Charakter des Nationalparks stehen könnte wie der Rachel: Doppelgipfelig, wild, weite Zustiegswege und ursprünglich geblieben. So ganz nebenbei gibt es dort auch keinen höheren, weil der Arber ja deutlich außerhalb der Nationalparkgrenzen liegt. Genussmindernd war hingegen die Tatsache, dass ich bei AKW und bis zu 25 Grad mein Kopftuch vergessen hatte und somit suboptimal vor der Sonne geschützt war. Aber dafür kann ja die Strecke nichts.
Am Parkplatz unterhalb der Trinkwassertalsperre Frauenau war überraschend wenig Betrieb, so dass ich ganz vorne beim Infopavillion parken konnte. Von dort ging es erst einmal auf einem wurzeligen Waldsteig vorbei an Betriebsgebäuden hinauf zur Dammkrone. Laut Infotafel war der Staudamm bei seiner Errichtung 1984 der höchste in Deutschland, ob er es jetzt noch ist, weiß ich nicht, und ich bin auch zu faul, jetzt während des Schreibens nachzuschauen. Man könnte von hier aus geradeaus weitergehen und auf einem markierten wohl Waldsteig entlang der Südseite zum östlichen Ende und zur Schachtenstraße kommen, ich versprach mir aber von der Nordseite (und auch der Staumauer selbst) aus interessante Blicke auf den Rachel und seine nördlichen Kämme. Von der Mauer aus gab es die auch, dazu kamen sehr schöne Blicke Richtung Zwiesel und ins Arbergebiet. Details können den Fotos entnommen werden. Während der 20 Minuten, die ich für die nicht mal soooooo lange Strecke über die Mauer brauchte, wurde ich nicht nur von Radfahrern, sondern auch von einem leeren Holztransporter überholt, die Nordseite gehört scheinbar nicht ganz zur Nationalpark-Kernzone. Leider setzt sich die Asphaltstraße nach der Staumauer noch eine ganze Weile fort, ich war bis weit hinter dem Ende des Stausees auf diesem ungeliebten Untergrund unterwegs. Naja, wenigstens konnte ich die meiste Strecke auf dem breiten Grasstreifen neben der Fahrstraße gehen, also war es nicht ganz so schlimm. Die Aussicht von der Nordseite war dann auch nicht so überragend, weil zwischen Straße und See ein doch etwa zehn Meter breiter Waldstreifen steht, der nicht vom Borkenkäfer zerfressen wurde. Am einen oder anderen Seitenbach gibt es eine kleine Schneise, die aber selten gute Fotomotive erlaubte. Ganz hinten stand früher einmal die kleine Siedlung Hirschbach, von der nicht mal mehr Grundmauern oder Brennesselfelder übrig sind. Dafür steht an dieser Stelle ein Unterstandshütterl, eine Infotafel und zwei Rastbänke. Die Wiese zum See hin war frisch gemäht, eigentlich Betreten verboten, aber für ein paar Fotos habe ich mich jeweils einen Meter hinter die Verbotsschilder gewagt. An der Südostecke des Sees kommt schließlich der Kleine Regen herunter, den ich im Laufe der Tour noch mehrere Male überqueren sollte. Bis zum Schachten (ohne differenzierenden Beinamen), an dessen unterem Ende der direkte Steig zum Rachel rechts abzweigt, ging es jetzt sanft bergauf, der Belag wechselte zu Schotter, ich wurde weiterhin von Radfahrern und einem Auto des Nationalparks überholt. Auch am Schachten war das Gras ziemlich kurz, aber zumindest weggeräumt, oder gehört dieser Schachten zu denjenigen, die in diesem Sommer wieder beweidet wurden? Zumindest ist die Diensthütte in einem sehr guten Zustand und am Nebengebäude standen Gerätschaften herum. Ich hielt mich aber nicht wirklich auf, sondern folgte weiterhin dem Wegweiser zum Verlorenen Schachten, dessen Zeitangabe wenig konsistent ist. Etwas oberhalb des Schachtens trennen sich Rad- und Fußweg und ich durfte auf einem sehr schönen breiten Waldpfad, der auch Judenweg genannt wird, weiter nach oben steigen. Auf diese Weise bekam ich zwar die Regenschwelle nicht zu Gesicht, aber das lässt sich ja einmal nachholen. Bald kreuzte der Fußweg den Radweg und vereinigte sich mit dem Goldsteig, der in der entgegengesetzten Richtung vom Hochschachten herunterkommt und hier zum Rachel abzweigt. Auf diesem blieb ich bis zum Verlorenen Schachten, einem der interessantesten Orte der Gegend. Er gehört nicht zum Nationalpark, sondern ist seit Jahrhunderten ununterbrochen im Besitz der gleichen (lokalen) Adelsfamilie, zieht sich hinüber bis zur Grenze (hinauf ist an dieser Stelle nicht ganz richtig, da das Gelände doch recht flach ist) und beheimatet die größte zusammenhängende Seegrasfläche aller Schachten im Bayerischen Wald. Was ich trotz intensiver Suche immer noch nicht herausgefunden habe, ist die Herkunft seines Namens. Daran, dass man hier verloren wäre, kann es nicht liegen, weil die Aussage so nicht stimmt. Immerhin steht hier eine kleine Hütte, die dem Bayerwaldverein Frauenau gehört und auch deutliche Signale einer gelegentlichen Nutzung zeigt. Hier machte ich meine erste größere Pause und genoss ein Wurst-Käse-Brot (die ersten beiden Apfelvierterln habe ich schon vorher gegessen, ich muss aber nicht jedes im Text notieren). Anschließend nahm ich den wieder einmal genussvollsten Teil der Wanderung unter die Füße, den Grenzsteig. Dieser führte mich zunächst etwa 80 Höhenmeter hinunter zur Brückerl über den Bach, der an dieser Stelle seinen Namen von Malá Řezná in Kleiner Regen ändert. Gleich nach der Überquerung begegnete ich zu meiner totalen Überraschung einem Wanderer, der vom Rachel herunterkam und den Steig unterhalb des Verlorenen Schachtens hinüber zum Goldsteig suchte. Ich hatte da nicht sonderlich aufgepasst und konnte ihm nicht wirklich weiterhelfen. Im weiteren Verlauf wechselte der Grenzsteig mehrfach seinen Charakter, es wurde mal trocken-moosig, mal richtig sumpfig (immerhin führt die Grenze in diesem Bereich mitten durch einige der schönsten Filze des Böhmerwaldes), dann musste wieder eine kleine Felsformation umgangen werden. An einer Stelle war der Grenzsteig übelst durch umgestürzte Bäume verlegt, aber auch hier fand ich eine Umgehung. Überraschenderweise, und hier unterscheidet sich dieser Abschnitt von dem, den ich vor fünf Wochen gegangen war, führten weite Strecken durch feinste Heidelbeersträucher, die auch noch gut mit sehr leckeren Früchten gefüllt waren. Ich habe zwar irgendwann mal in der Nationalparkverordnung gelesen, dass in der Kernzone nichts gepflückt werden darf, aber das bezieht sich eher auf Blumen. Außerdem habe ich ja nicht gesammelt, sondern nur genascht, und ich kann mir nicht vorstellen, dass mich ein Ranger zum Hungern zwingen würde, wenn mehr als genug Beeren für alle Vögel, Wildtiere und Wanderer da sind. Leider gehen die schönsten Wegabschnitte immer viel zu schnell vorbei, und so stand ich gerade einmal etwas mehr als eine Stunde nach meinem Abmarsch am Verlorenen Schachten vor dem Grenzstein Nummer 25, von dem aus laut Karte der Pfad hinüber zum Kapellensteig und Großen Rachel abzweigen sollte. Dieser befindet sich tatsächlich etwa zwölf Meter nördlich des Grenzsteins, aber eine ganz kurze Rast musste schon drin sein. Auf dem Pfad kam ich nur wenige Meter weit, bevor ich (bildlich) über den nächsten Grenzstein stolperte. Dieser ist wesentlich schlichter und niedriger und außerdem im Gegensatz zu den schön weiß gestrichenen Staatsgrenzsteinen einfach nur mausgrau und ungepflegt. Ein Blick auf den Kartenausdruck verriet mir, dass auch dieser Pfad ein Grenzsteig ist, nämlich zwischen den Landkreisen Regen und Freyung-Grafenau (bis 1972 ohne Freyung). 20 Minuten später erreichte ich den Kapellensteig und tauchte in die Menschenmassen ein. Ab jetzt war ich auf einem markierten Wanderweg unterwegs, der wieder Teil des Goldsteigs ist und außerdem den direkten Zustieg von der Racheldiensthütte darstellt. Details können meinem Bericht von vor fünf Jahren entnommen werden, damals benutzte ich ab dem Rachelsee diesen Aufstieg. Ich bin mir nur nicht sicher, wie ausführlich ich damals geschrieben hatte. Am Gipfel angekommen, genoss ich kurz die Atmosphäre, machte ein paar Fotos zur Ergänzung derer von den letzten 100 Aufstiegshöhenmetern und stieg dann ab zum Waldschmidthaus. Hier wurde ich erst einmal leicht enttäuscht, weil alle größeren Gerichte bereits aus waren. Also musste ich mich mit einem Paar Weißwürste begnügen, das auch nicht mehr das allerfrischeste war. Dafür war das Hutthurmer Dunkle gewohnt ordentlich und die Tischgesellschaft wirklich nett, zuerst ein Ehepaar aus dem Heidelberger Raum, das gerade erst mit dem Wandern begonnen hatte und danach eine Tschechin, die im Allgäu lebt und dort an der VHS Tschechisch lehrt. Zum Schluss gesellte sich noch ein Slowake mit Hund zu uns, was meiner Tschechischpraxis durchaus hilfreich war. Nach einer knappen Stunde hieß es aber wieder weitergehen, allerdings nicht ohne den kurzen Abstecher zum Seeblick, von dem aus ich nicht nur den Rachelsee fotografieren konnte, sondern auch meine Sammlung von Lusen-und-Plattenhausriegel-Bildern vervollständigen konnte. Ganz nebenbei war die Sicht so gut, dass am Horizont die Alpen ziemlich klar erkennbar waren. Sieben Minuten später erreichte ich die Rachelwiese, die ebenfalls ein ehemaliger Schachten ist, verlor wohl dort mein Handtuch und wurde per Schild darauf hingewiesen, dass der direkte Pfad von dort zum Gipfel des Großen Rachel mittlerweile ganzjährig gesperrt ist. Das stört mich nicht weiter, weil es über das Waldschmidthaus kaum ein Umweg ist und außerdem die letzten Meter oben ziemlich übles Gelände sind, wie mir ein Blick vom Gipfel verraten hatte. Erlaubt ist es hingegen, zwischen 15. Juli und 15. November zum Kleinen Rachel hinaufzugehen. Dieser sieht von unten wesentlich markanter aus als er ist, wenn man oben steht, es sind zwischen Rachelwiese und höchstem Punkt gerade einmal 36 Höhenmeter, die sich auf 500 Meter Strecke verteilen. Nach dem höchsten Punkt, zu dem man links abbiegen muss, geht der Pfad noch ein Stück in die Nordwestflanke bis zu einem Aussichtspunkt mit Gipfelkreuz. Allerdings sieht man das von oben aus nicht, so dass ich einen aussichtsreichen Punkt oberhalb, nach dem ich den weiteren Pfad nicht mehr sicher erkennen konnte, als den in der Karte verzeichneten Aussichtspunkt ansah und dort nach wenigen Fotos umkehrte. Zurück an der Rachelwiese wählte ich den Frauenauer Rachelsteig, der auch Teil des E6 ist. Auch dieser Steig ist purer Genuss, es gibt nur deshalb weniger Fotos, weil der Tag sich seinem Ende zu neigte und die Lichtverhältnisse für meine Kamera immer schwieriger wurden. Auf etwa 1150 Meter Höhe verläuft der Steig kurzzeitig auf einer Forststraße, die wohl vom Gfäll herüberkommt. Bald geht es jedoch wieder links auf einen Waldsteig, man kann aber bei ganz schlechten Verhältnissen auf der fast parallel etwa 15 Meter tiefer verlaufenden Forststraße bleiben, weil sich die beiden Wege bei Punkt 852 Meter wieder vereinigen. Hier führt der markierte Weg links hinunter nach Oberfrauenau, ich spekulierte jedoch auf eine unmarkierte Spur geradeaus durch den Wald und hatte noch Glück: Sie war gut begehbar, mündete wie auf Karte und GPS-Track angezeigt unten in den Wanderweg von Frauenau zum Speichersee und brachte mir so eine Ersparnis von etwa einem halben Kilometer. Übermütigerweise verließ ich diesen Weg keine 50 Meter weiter östlich wieder nach links, weil mir meine Hilfmittel da ebenfalls eine Abkürzung anzeigten, und hatte dieses Mal kein Glück. Die ersten Meter gingen noch, aber dann wechselte sich GKK 4 mit unüberwindbaren Baumstämmen ab, so dass ich effektiv weiter gehen musste, länger brauchte, mir etliche Dornen in die Beine riss und auch meine weiße Wanderhose noch einmal richtig versaute. Auf dem markierten Weg wäre ich genauso zur Dammzufahrt gekommen, ich hätte halt in der Theorie 200 Meter mehr gehen müssen, davon 50 auf Asphalt. Trotzdem erreichte ich zwanzig vor acht wieder den Parkplatz, mampfte mit deutlich weniger Genuss mein zweites Wurstbrot und fuhr dann zumindest ohne tiefstehende Sonne zurück nach Hause, wo ich wenigstens noch drei Stücke Pizza im Ofen vorfand, die mir meine Herrschaften netterweise übriggelassen hatten.
Schlagwörter: frauenau, großer rachel, hirschbach, judenweg, kleiner arber, kleiner rachel, kleiner regen, mala rezna, rachelschutzhaus, rachelsteig, rachelwiese, schachten, schachtenstraße, spiegelau, trinkwasserspeicher, waldschmidthaus